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HAUTNAH
Wolf-Ulrich Cropp
An einem nieselregnerischen Nachmittag des Samstags vor dem
dritten Advent 2000 verließ ein junger Mann seine Dreizimmerwohnung
in der Marienstraße 54. Die Straße, gesäumt
von ausdruckslosen, vierstöckigen Häusern, liegt in
Hamburg-Harburg, ist anonym, verkehrsreich und verläuft
zwischen Luther-Kirche und Standesamt. Der Mann schien es eilig
zu haben. Auf der Straße blickte er sich kurz um, dann
stellte er den Kragen seiner dunkelblauen Jacke hoch. Um sich
vor der Feuchtigkeit zu schützen?
Anfang dreißig mochte er sein, war unrasiert, trug Pluderhosen,
dazu eine kaftanartige Jacke. Raschen Schrittes hastete er die
Knoppstraße, schließlich den Harburger-Ring entlang,
und bestieg die S-Bahn. Ein Billett löste er nicht, weil
er eine Monatskarte besaß. Die S-Bahn war ihm ein vertrautes
Verkehrsmittel. Unzählige Male fuhr er von Harburg hinein
in die Hamburger Innenstadt, traf sich mit Freunden im Gebetshaus
Al-Kuds oder anderswo.
Am Hauptbahnhof stieg der Mann aus, stieß am Ende des
Bahnsteiges auf einen ebenfalls orientalisch anmutenden, etwas
jüngeren Mann mit welligen Haaren, fliehendem Kinn und
Vollbart. Man gab sich die Hand, redete miteinander. Da sich
die beiden in einer fremden, guttural klingenden Sprache austauschten,
ist nicht bekannt, um was es ging. Plötzlich zückte
der Mann aus Harburg ein Kuvert, übergab es dem Bekannten.
Der Umschlag verschwand in dessen Manteltasche. (Später
sollten Ermittlungen ergeben, dass es sich um ein wichtiges
Dokument gehandelt hatte, mit dem Hinweis: „Engel rufen
deinen Namen.“)
Bei dieser Gelegenheit war das Gesicht des Mannes aus Harburg
recht gut zu erkennen: harte, energische Gesichtszüge,
markante Nase, am schmalen Mund fiel auf, dass die Oberlippe
voller als die Unterlippe war. Aus den dunklen Augen sprach
– das war einprägsam - eine eigentümliche Kälte,
die Fanatismus ahnen ließ. Seine schwarzen, vollen Haare
waren kurz geschnitten, scheitellos frisiert.
Nach einer Weile umarmten sich die Männer und entfernten
sich in entgegengesetzter Richtung. Der Mann mit dem energischen
Gesicht hatte es auf einmal weniger eilig. Er schlenderte die
Mönckebergstraße hinunter, vorbei an Ständen
des Weihnachtsmarktes in Richtung Rathaus, bis ihn der Passantenstrom
verschlang ...
Etwa zur selben Zeit rief Pastor Peter Körner seiner Frau
zu: „Hilde, ich möchte etwas Weihnachtsstimmung genießen,
kommst du mit zum Rathausmarkt?“ „Lieber nicht,
Peter, ich muss einiges für den Gesprächskreis vorbereiten.“
Pastor Körner trat also allein aus dem Pfarrhaus, das ganz
verwunschen neben der avantgardistisch anmutenden Hammer-Kirche
zu Hamburg-Hamm steht. „Hier, der Foto, fang’ schöne
Motive für den Kindergarten ein!“ sagte Hilde noch
und reichte ihm die Kamera.
Pfarrer Körner entschloss er sich mit der U-Bahn bis Jungfernstieg
zu fahren, um von dort hinüber zum Markt zu gehen. Er liebte
die weihnachtlich geschmückte Innenstadt, die Riesentanne
mitten auf der Binnenalster, die Lichtgirlanden an Hausfassaden
und über den Straßen, die angestrahlten Kirchen,
das beleuchtete Rathaus. Menschen aus Afghanistan, Saudi-Arabien,
der Türkei, dem Jemen, aus Nordafrika begingen in diesen
Wochen ihren Fastenmonat Ramadan in Hamburg.
Auf Initiative der Hamburger Bischöfin und Repräsentanten
der islamischen Gemeinden wurde wieder einmal aufgerufen, doch
mehr private Kontakte zwischen Moslems und Christen zu knüpfen.
Pastor Körner und seine Frau unterstützten den Appell
und förderte die Integration ausländischer Mitbürger
und Gäste nach Kräften. Beide waren durchdrungen vom
multikulturellen Weltbild, überzeugt, dass das Leben mit
kultureller Vielfalt gewinnt, erst durch unterschiedliche Einflüsse
befruchtet wird und zu einem harmonischen Miteinander führt.
Jetzt hatte Peter Körner den Rathausmarkt erreicht. Der
Geruch gebrannter Mandeln, das Aroma von Spekulatius, Zimtsternen,
Anisplätzchen stieg ihm in die Nase, und wie immer um diese
Zeit, fühlte er sich mit Freude, an seine umsorgte Kindheit
erinnert. Weihnachtstrubel umgab den Pfarrer nun vollends. So
mittendrin schob ihn eine Woge Paket- und Tütenschlepper
vorbei an Glühweinständen, Würstchenbuden, Christstollenverkäufern
in die Mönckebergstraße. Vor der Petri-Kirche ließ
die drangvolle Enge etwas nach.
Peter Körner verharrte vor dem Kirchenportal und ließ
die Menschen auf sich wirken. Von jeher faszinierten ihn Augen,
die Seelenfenster. Augen verraten Empfindungen und erzählen
Geschichten, ohne reden zu müssen. Er sah in Kinderaugen,
die voller Erwartung und Vorfreude leuchteten, in tränenfeuchte,
denen Wünsche verwehrt wurden. Er sah glückliche Augen
Verliebter, besorgte von Eltern. Gebrochene, erloschene, traurige
Augen einsamer Menschen. Oh ja, Kerzen, die sich nicht in den
Augen eines geliebten Menschen spiegeln, brennen sich ein in
das Gemüt als Schmerz der Einsamkeit! Weihnachten ist Notstand
für Singels.
Auf einmal waren da Augen, die so gar nicht ins Bild der Stadt
passten. Schwarze, unruhige, entrückte Augen, die eine
Mission zu haben schienen. Den Pfarrer interessierte der Mensch,
zu dem diese Augen gehörten. Was suchte der junge Mann
mit dem orientalischen Gesicht auf einem Christmarkt? Er wollte
ihn fragen, mit ihm sprechen, sich mit ihm verständigen.
Doch vorher musste er die Begegnung festhalten: das fremdländische
Gesicht im Weihnachtsgeschehen vor der Kirche – es assoziierte
Versöhnlichkeit, aber auch Wunsch und Teilnahme.
In gleicher Höhe mit dem Fremden drückte er auf den
Auslöser. Unruhige Augen verrieten Erstaunen, für
Sekunden nur, dann war der Mann vorbeigegangen. Warum sprach
ich ihn nicht an? Warum erklärte ich ihm mein Handeln nicht?
Peter Körner war über seine Untätigkeit gleichermaßen
erstaunt, wie ärgerlich. Wer lässt sich schon gern
grundlos ablichten? Es könnte doch sein, dass der Fremde
allein war in der großen, kalten Stadt und ich hätte
ihm helfen können, dachte Körner.
Aber der Mann war verschwunden, die Gedanken verflogen.
Der Pfarrer schoss noch ein paar Bilder und schickte sich an
zu gehen. Der Fremde mit dem arabischen Aussehen versperrte
ihm den Weg. „Sie haben mich fotografiert. Ich bin gläubiger
Muslim, Bildnisse von Personen sind nicht erlaubt,“ sagte
er in gutem Deutsch. „Entschuldigen Sie, ich wollte die
Szene einfach festhalten, sie war so eindrucksvoll. „Geben
Sie mir den Film!“ hieß es bestimmt. „Das
geht nicht, er enthält noch andere, wichtige Motive.“
„Den Film!“ Der Mann streckte fordernd die Hand
aus. „Ich gebe Ihnen meine Adresse, oder Sie geben mir
die Ihre. Das Foto können Sie jederzeit bekommen. Auch
das Negativ. Es tut mir wirklich furchtbar leid.“
Ein mächtiger Weihnachtsmann im roten Rock mit Kapuze und
weißem Wallebart löste sich von einem Würstchenstand,
hielt, in Verkennung der Situation, dem Araber eine dicke, fette
Bockwurst unter die Nase, die ihm dieser angeekelt und voll
Wut aus der Hand schlug. Im Nu entstand eine Rangelei, bei der
auch Passanten gestoßen und gerempelt wurden. Einige fluchten,
andere wandten sich entgeistert ab, wieder andere blieben erstaunt
stehen, amüsiert von der kuriosen Darbietung. Dem Pastoren
war die ganze Situation schrecklich peinlich. Er bemühte
sich um Schlichtung. Der Weihnachtsmann, immer mehr in Rage
gekommen, wollte, dass der junge Mann die Wurst aufhob und sich
entschuldigte.
„Moslems essen kein Schweinefleisch,“ erklärte
Körner beschwörend.
„Mir doch egal! Was macht der Bursche auf dem Markt?“
Gerade wollte er ihn in den Schwitzkasten nehmen. „Wo
ist denn die Polizei?“ rief einer der Gaffer.
Schon bahnten sich zwei Uniformierte ihren Weg an den Ort der
Auseinandersetzung. Wie ein Aal entwandt sich der vermeintliche
Araber dem Griff des Weihnachtsmanns und tauchte mit dem schaurigen
Fluch: „Feuer über die Ungläubigen!“ im
Durcheinander des Trubels unter.
Pastor Körner erklärte den Polizisten den Vorfall
als großes Missverständnis. Langsam entflocht sich
die Menschentraube. Kopfschüttelnd stapfte der Weihnachtsmann
an seinen Stand zurück. Und Peter Körner schob sich,
innerlich aufgewühlt, durch den Menschenstrom in Richtung
Bahn.
Zuhause setzte er sich zu seiner Frau ins Wohnzimmer. Der Vorfall
ließ ihm keine Ruhe. „Was ich zu wahren trachtete,
habe ich schändlich missachtet
„Was ist denn geschehen , Peter?“ fragte Hilde erstaunt.
„Ich habe die Gefühle eines Moslems verletzt.“
„Das kann ich mir nicht denken.“ „Doch, doch,
ich habe ihn einfach fotografiert, das Bild war so eindrucksvoll!“
„Und – was geschah?“ „Fast hätte
es eine Schlägerei gegeben.“
Hilde legte das Buch aus der Hand, dachte einen Moment nach
und meinte: „Merkwürdig, ich glaube der hatte andere
als religiöse Gründe sich nicht ablichten zu lassen.“
„Andere Gründe? - Er hatte so melancholische, so
unruhige Augen. Ich glaube er brauchte Hilfe. Ich hätte
mit ihm reden sollen.“
„Ach, Peter, du definierst zu viel über die Augen.
– Hast du eigentlich schon deine Predigt vorbereitet?“
„Ich werde über ‚suchenden Augen eines Fremden
in der Weihnachtszeit’ sprechen.“
So kam es, dass die zufällige Begegnung mit dem jungen
Mann im sonntäglichen Gottesdienst ihre Erwähnung
fand – allerdings dann für immer, so schien es, der
Erinnerung entrückte.
Peter Körner saß an seinem Schreibtisch und starrte
abwechselnd auf die Titelseite der Tageszeitung und auf seine
Fotografie. „Unglaublich, einfach unglaublich!“
murmelte er fassungslos. Man schrieb den 13. September 2001.
Vorgestern hatte ein entsetzliches Attentat beide Wolkenkratzer
des World-Trade-Centers von New York in Schutt und Asche gelegt
und fast 3000 Menschen unter den Trümmern begraben. Als
um 8.45 Uhr die erste, um 9.02 Uhr des 11. Septembers die zweite
Boeing 767 in die Türme krachte, hatte sich die Welt verändert.
Der Anführer des Kamikaze-Unternehmens und Pilot der ersten
Maschine war Anfang dreißig mit energischem Gesicht, markanter
Nase, schmalem Mund mit einer etwas volleren Oberlippe. Ein
Todesengel! Es fehlten die Worte... Pastor Körner fehlten
die Worte. Noch gellten Scheie der Eingeschlossenen in den Ohren
seiner Vorstellung: „Mom, das Gebäude brennt, der
Rauch kommt durch die Wände, ich krieg’ keine Luft!“
– „Ich werde hier rauskommen. Aber ich muss erst
meine Leute in Sicherheit bringen.“ – „Wir
warten darauf, runterzukommen. Hab keine Angst, wir sind in
Gottes Hand.“ – „Irgendwas passiert hier.
Klingt wie ein Erdbeben. Alles brennt.“ - „ Susan,
ich weiß, dass ich gleich sterben werde.“ –
„Bitte vergebt mir für alles!“ - „Wir
stürzen... es ist vorbei... Hilfe!... Hilfe!...“
Er hieß Mohammed El-Amir Atta, war 33 Jahre alt, studierte
Stadtplanung an der Technischen Universität in Hamburg-Harburg,
lebte jahrelang unauffällig zwischen Gebetsteppichen und
Computern in der Marienstraße 54 , fuhr fast täglich
mit der S-Bahn in die Stadt, bis er für das Terrornetzwerk
Al-Qaida rekrutiert wurde. Der Massenmörder kam aus Hamburg
und Pfarrer Peter Körner hielt das selbstgeschossene Foto
dieses Menschen in der Hand....
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