 |
Afghanistan
Reise in ein Land voller Wirren
Kabul,
im Januar 2002
„Ich sah die Farben der Heimat: Schwarz das Gestein,
gelb der Sand, braun dorniges Gesträuch. Die Stadt vom
Gebirge in der scheidenden Sonne rot umsäumt, wie ein
glühender Ring, der sich um Kabul schnürt. Bilder
und Träume, die den Tag und die Nacht begleiteten und
nicht mehr losließen. Meine Unruhe wuchs zum Wunsch,
der Wunsch zum Verlangen. Vielleicht hätte ich sie doch
lieber nicht wiedersehen wollen - die Heimat. Vieles wäre
einfacher für mich, anonymer“, sagte Mohammat Harum
an jenem Tag, in der zerstörten Stadt.
Es ist Anfang Januar. In den Straßen, an den Wänden
zerschossener Häuser hängt hoch und überlebensgroß
noch immer das lachende Konterfei Massuds, als vermögen
nur die Toten das Land zu einen. Und darunter, immer noch,
in ihren Burkas eilig trippelnd, Frauen und Mädchen.
Der türkisfarbene Ganzkörperschleier ist älter
als die Herrschaft der Taliban währte: er hat 300 Jahre
Tradition!
Mohammat Harum weiter: „Aber mit dem Heimweh, dem Verlangen
nach zu Hause, beschlich mich Ungewißheit und Angst
vor dem Neuen. Ein langer einsamer Kampf entbrannte in mir.
Die Rückkehr ist für mich und meine Familie schließlich
ein großes Abenteuer!“
„Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang“, gebe ich
zu bedenken.
„Schon richtig, schließlich setze ich meine gesicherte
Existenz auf `s Spiel. Aber ich bin erleichtert und stolz
auf meinen Entschluß, er hat mir die innere Ruhe zurückgegeben!“
Harum macht eine Pause. Seine rechte Hand gleitet in die Schüssel.
Wir fischen Pilav aus dem gemeinsamen Topf. Beim Essen mit
den Fingern bin ich unbeholfen.
Nachdenkliches Schweigen hängt zwischen uns.
Der Afghane schaut mir beim Essen zu, dann grinst er plötzlich.
„Stellen Sie sich vor, es ist keine vier Wochen her,
da wurde Dieben die rechte Hand abgeschlagen. Mit einem solchen
Brandmal sind sie verhungert. Nur die rechte Hand darf in
die gemeinsame Schüssel greifen. Für gewisse Verrichtungen
kannte man kein Papier, sondern benutzte die linke Hand. Ein
unumstößliches Gesetz, dadurch ist jeder, dem die
Rechte fehlt für immer vom Gemeinschaftsmahl verbannt“.
Mohammat Harum hatte Afghanistan 1980 verlassen. In der Zeit
des Guerillakriegs. Granaten und Bomben fielen aus zornigem
Himmel und über das Land legte sich ein Minenteppich.
Zwanzig Jahre war er damals alt. Präsident Hafisollah
Amin erlag einem Attentat. Gerade hatten die Russen Babrak
Karmal an die Macht gebracht. Der Widerstand der Mudschahedin
hatte zugenommen. Harum, aus einer ehemals königstreuen
Paschtunenfamilie stammend, mußte sich entscheiden:
Im Untergrund der „Glaubenskrieger“ kämpfen
oder auf der Seite der Sowjets das Land unter den kommunistischen
Stiefel zwingen. Der Vater, einst wohlhabender Händler
in Kandahar, hatte sich gegen die fremde Macht entschieden
und kämpfte, bis ihn eine Granate traf.
Mit dem Abitur der französischen Schule von Kabul in
der Tasche, wählte der Sohn den dritten, nicht minder
schmerzlichen Weg: er ging ins Ausland.
Harums kleine Odyssee führte über Pakistan nach
Frankreich, schließlich bis Karlsruhe, wo er Bauingenieurwesen
studierte und mit dem Diplom abschloß.
Nun folgte der geordnete Weg als Angestellter, dann als Familienvater
von zwei Kindern. Zuvor hatte der Moslem Jutta Schulz, eine
Christin katholischer Konfession, geheiratet. Es wurde eine
harmonische Ehe geführt, die den Glauben des Partners
respektierte.
Als Mohammat sich vor fünf Jahren mit einem Ingenieurbüro
selbständig machte - und erfolgreich war, schien das
Glück der Harum-Schulz perfekt... bedrägten ihn
nicht die Bilder und Träume der Heimat.Mohammat Harum
erreichte Kabul über Usbekistan. Eine klapprige Maschine
aus russischem Bestand hatte ihn vor drei Tagen auf dem Stützpunkt
Bagram abgesetzt...
Und der Zufall führte uns heute auf dem Char Chata Basar
Kabuls zusammen. Ich wollte gerade einen Pokol kaufen, jene
obligate Wollkappe der Paschtunen, da sprach mich jemand in
fließendem Deutsch an.
Ich schaute auf, und diesmal in kein finsteres, verhärmtes
Gesicht. Ein freundlicher Orientale aus Deutschland, dessen
Augen vor Tatendrang leuchteten. Irgendwie beeindruckend.
Auf einmal waren wir neugierig, voneinander zu erfahren, was
uns hierher, in dieses Land, zu dieser Zeit, geführt
haben mochte.
So gingen wir gemeinsam zum Mittagessen ins Kalpha am Maydan-Platz.Und
was suchte ich in dem Land? Die Antwort auf das große
Dilemma? Lohnt der Einsatz fremder Soldaten im fremden Land?
Kann die Isaf, vermag eine noch so lautere Friedenstruppe
halten was man sich von ihr verspricht?
Ich muß es wissen, schließlich birgt der Einsatz
Risiken.
Allein der Gedanke daran ist schmerzlich. Mein Sohn ist Soldat.
Er kommt in dies Land. Oder ist er schon da? Ich suche ihn
- und die „Karawanen der Nacht“, das Afghanistan,
wie es einst gewesen sein mag in der „goldenen Zeit“,
unter König Mohammad Zahir Schah bis 1973, vierzig Jahre
lang.
Ich versuchte von Pakistan aus mit einem Fahrzeug über
die Grenze zu gelangen. Dazu mußte erst einmal der Ort
Peschawar mit dem Kleinbus erreicht werden. Neben mir saß
Sami Yousafa, ein Journalist. Er schilderte mir den Grenzübergang
am Khyber-Paß als hot spot, besetzt von Warlords und
anderen Finsterlingen, die von Wegzoll und Raub existieren.
Was die landschaftliche Szenerie betrifft, ist der Khyber
nicht das aufregendste Tor nach Afghanistan. Historisch gesehen
aber allemal: „Im Großen Spiel“ rangen Rußland
und Großbritannien um die Vorherrschaft in Zentralasien.
Dabei kam es zu drei großen Kriegen zwischen Briten
und Afghanen. Den ersten um 1840 verloren die englischen Truppen
in einer verheerenden Niederlage.Theodor Fontanes Ballade
gibt Kunde:„
... Die hören sollten, die hören nicht mehr,
vernichtet ist das ganze Heer,
Mit 13 000 der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.
“Wie eine mächtige Boa windet sich der Paß
durch unzugängliches Gebirge. Auf ihrem Rücken werden
seit Generationen Waffen verschoben, Rauschgift und Menschen
geschmuggelt.
Inschallah, so Gott will, gelangt man in die Klauen Abdul
Qadirs, Kriegsfürst über drei Provinzen und Herr
über große Mohnfelder, die ihm durch Opium und
Heroin die Kriegskasse füllen.
Jenseits der Grenze erstrecken sich auch jene Felder, die
in ihrer Art die größten der Erde sind: Minenfelder.
Afghanistan auf dem Landweg erreichen, mißlang. Tom
vom Internationalen Roten Kreuz meinte, die einzige Chance
sei mit UNHAS auf dem Luftweg ins Land zu gelangen... Und
zwei Tage später saß ich dann tatsächlich
in einer kleinen Sondermaschine der UNO mit Ziel Kabul.
Kaum 70 Minuten später schwebte die Fokker F 28-4000
über dem ehemals sowjetischen Militärstützpunkt
Bagram ein. Der Pilot vollführte einen raschen Sinkflug,
um Raketenangriffen aus versteckten Rebellennestern möglichst
wenig Angriffsfläche zu bieten. Im Tower kontrollierten
die Amerikaner jeden Flug, und entschieden ob gelandet oder
gestartet werden durfte. Wer sich ihren Orders nicht unterwarf,
wurde unter Feuer genommen!
Bagram, 50 Kilometer nördlich der Hauptstadt, ist ein
Plateau, umgeben von Wüste und schroffen Gebirgszügen.
Zerbombte Hangars, Verwaltungsgebäude, zerstörtes
Kriegsmaterial säumen die Landepiste. Ein Bild der Verwüstung
in der Wüste.
Wie ein Schwarm aufgeschreckter Heuschrecken stieben Kampfhubschrauber
in alle Richtungen. Aggressives Geknatter erfüllte die
Luft und signalisierte Gefahr, selbst da, wo keine war.Fröstelnd
stand ich mit Helfern und Journalisten auf dem Rollfeld. Die
Diplomaten verschwanden bereits in einem Konvoi älterer
Daimler und wurden in südlicher Richtung davongefahren.
Hatte man uns vergessen, im Regen? Nässe drang an die
Haut, eisiger Wind blies von den Bergen herab. Endlich tauchten
UN-Busse auf. Im letzten Büchsenlicht rollte auch unser
Konvoi, an tief gestaffelt operierenden Patroullien vorbei,
in Richtung Kabul.
Einem undurchdringlichen Kokon gleich, hatte sich Militär
aus GI`s, englischen, französischen Soldaten, Mudschahedin
der Nordallianz um den Stützpunkt gelegt. Hier herrschte
Kriegsrecht. Das nahm der Zivilist wie eine ungeheure Bedrohung
wahr.
Die Fahrt auf der von Bombentrichtern übersäten
Betonpiste in die Hauptstadt dauerte über zwei Stunden.
Vor einer zerstörten Brücke verließen wir
die Straße und arbeiteten uns durch ein schlammiges
Flußbett.
Überall verlassene MG-Unterstände, ausgebrannte
Panzer, zusammengestürzte Lehmhäuser, alles verwaist,
die Bauern geflohen.Dort - eine Ziegenherde, sogar ein Hirte!
Er schaute uns nach, wir starrten ihn an, ungläubig,
als sei er der letzte Überlebende... Selbst in der Wüste
richtete der Krieg Entsetzliches an. Bellum omnium in omnes,
ein Krieg aller gegen alles!Kabul erreichten wir bei völliger
Dunkelheit. Wo die Nacht verbringen? Wo Hunger und Durst stillen?
Die wenigen intakten Hotels waren hoffnungslos überbucht.
Gastlichkeit ist in Afghanistan ein heiliges Gesetz. Ein hilfreicher
Geist brachte mich in einen unbekannten Stadteil, in eine
unbekannte Straße, in ein unbekanntes Haus. Im Wohnzimmer
saßen drei verwegene Gesellen. Der Hausherr wies mir
eine Ecke des Raumes zu. Ich legte mein Bündel nieder,
und trank mit den drei tschei, heißen, grünen Tee.
Es war zu erfahren, daß ich für 40 Dollar die Nacht
herzlich willkommen sei.
Der Regen hatte tags darauf aufgehört, zaghaft drangen
Sonnenstrahlen durch einen gelben Brei aus Gestank, Abgasen,
Lärm. Uraltautos furzten schwarze, satte Wolken hemmunglos
in die Luft. Man möchte das Atmen aufgeben. Hals und
Nase kratzten, als zöge eine Feile über die Schleimhäute.
Ein Erkundungsgang mußte aber jetzt sein! Erstmals beneidete
ich die geheimnisvoll verschleierten Frauen, deren Burkas
der Wind, was sage ich, die Abgasbrise blähte, wie ein
türkisfarbenes Ballonsegel. Sie brachten Farbe ins triste
Stadtbild und das Gesichtsgitter schien die pestilenzialische
Luft ein wenig zu filtern. Man will es nicht wahr haben, aber
der Ganzkörperschleier verleiht den Damen darunter eine
mystische, ahnungsvolle Würde.
Es hatte etwas ungemein rätselhaftes, den Neutren zu
begegnen, sich zu fragen, welche Art von weiblichen Wesen
wohl unter dieser oder jener Hülle verborgen sein mochte.
Selten sind Frauen gegenwärtiger gewesen, nie wurde ich
durch ihre Nähe so fasziniert.
Ich war weit und breit der einzige Europäer, der zu Fuß
unterwegs war. So war es nicht erstaunlich, daß ich
alsbald Fremdenführer, Übersetzer, Chauffeure und
andere Helfer im Troß hatte.
Kriegsversehrte Kinder auf selbstgebastelten Holzkrücken
riefen: „Bakschisch Mister, Bakschisch!“ streckten
eine Hand aus oder einen Stummel, wo eine Hand war. Das Herz
verkrampfte sich. Das Kleingeld reichte nicht.
Glutäugige Menschen mit bartumränderten Gesichtern
schlangen braune, grobe Baumwolldecken um sich oder zogen
Tücher in ihre Gesichter. Blicke voller Skepsis, Sorge,
Grimm, sie trafen auf alles Fremde wie Blitze. Ich kam mir
vor, wie ein Nackter auf einem Kostümfest. Das mußte
sich ändern!
Also strebte ich dem Char Charta, dem großen Basar zu,
vorbei an schwer bewaffneten Männern in Phantasieuniformen.
Ich glaube, es gibt keine Hauptstadt, in der sich soviel armierte
Bürger tummelten, die irgendwie auf ihren Einsatz lauerten.
Das ergab eine eigentümliche Stimmung von Aufbruch und
Untergang, Chaos und Ordnung, die wir ferangi, Fremde, nie
begreifen werden. Ein Land, eine Stadt voller phantastischer
Widersprüche.
Kabul liegt an der Kreuzung 3000 Jahre alter Karawanenwege,
ist im Westen von der Kette des Koh-i-Baba und im Norden vom
Hindukusch umsäumt. Im Winter liegt die Stadt mit ihren
1,7 Millionen Menschen gefangen in einem Hochbecken, dessen
Wände aus Eis und Granit bestehen. Jetzt war Winter!
Das Gedränge verdichtete sich. Männer trieben Handel
mit allerlei Krimskrams. Der Basar war nicht mehr fern.Ich
staunte über das Angebot frischer Waren. Überall
herrschte wieder orientalische Händlerfreude.
„Der Pakol steht Ihnen, nur wird er stärker in
die Stirn gezogen“, sagte eine Stimme.
Ich schaute auf und in ein freundliches, dunkles, aber glattrasiertes
Gesicht. Über der Augenbraue befand sich eine Narbe.
Verblüfft über den akzentfreien deutschen Satz fragte
ich, was die Mütze kosten dürfe. Er nannte den Preis,
und so kam es, daß wir bald darauf gemeinsam im Kalpha
unseren Gedankenaustausch hatten.
„Die Probleme sind Uneinigkeit und Rivalitäten.
Wenn sich drei einigen, dann sich zwei davon keine Afghanen.
Hinter jedem Berg sitzt ein König“, erklärt
Mohammat Harum. „Im Ministerium für Wiederaufbau
arbeitet ein Tadschike. Kaum hatte der Staatsdiener mich als
Paschtune identifiziert, zeigte er mir die kalte Schulter.
Lieber würde er sich von einem unfähigen Landsmann
helfen lassen, als von einem qualifizierten Paschtunen!“
„Weiß Gott, ein Trauerspiel!“ pflichte ich
bei.„Ich werde nach Kandahar gehen. Dort bin ich geboren.
In der Hoffnung, daß meine Hilfe angenommen wird!“
Ich schüttle den Kopf. Denke an den Appell Präsident
Hamid Karsais, die Eliten außerhalb des Landes mögen
zurückkehren, um sich, wenigstens temporär, am Aufbau
Afghanistans zu beteiligen. Allein in Hamburg leben 18 000,
in Deutschland 70 000 Landsleute.
Wir Deutsche haben allen Grund, Aufbau und Einigungsprozeß
mit Rat und Tat zu begleiten. Vor gar nicht so langer Zeit
war auch unser Land ein Konglomerat konkurrierender Fürstenhäuser.
Unendlich schmerzlich-langsam wuchsen wir zusammen und noch
langsamer und schmerzhafter mußten uns die Siegermächte
zur Demokratie bekehren. Welch eine, so gern verdrängte,
Parallele!
„Kandahar ruft!“ sagt er und erhebt sich, „sehen
wir uns wieder?“„Sicher, gewiß!“Voller
Tatendrang schreitet er zum Ausgang. Ein Streiter für
eine gute Sache, beseelt vom Glauben an seine Möglichkeiten
helfen zu können.
Ja, wir sollten uns tatsächlich wiedersehen. Im Süden.
Doch die Umstände werden von großer Traurigkeit
sein.Wo einst das kulturelle Herz der Stadt schlug, sind Höhlenmenschen
in Ruinen eingezogen. Großrädrige Karren werden
von Menschenkraft an mir vorbei, die Straße hinaufgezogen.
Und dort, vor den Toren des Präsidentenpalastes, auf
einem der schönsten Plätze, errichteten die Taliban
ihren Galgenberg.
Wochenlang ließen sie zu Dutzenden Regimegegner hängen
und deren Körper gen Himmel faulen - bis sich Geier erbarmten.
Staatschef Nadschibullah war einer der ersten, der, trotz
UNO-Schutz, auf diesem Platz ermordet wurde... Unvorstellbar,
mit welcher Grausamkeit die „Schüler des Islam“
zu Werke gingen!
Gerade gehe ich an einem Geschäft mit Radios und Fersehgeräten
vorbei. Musik dringt aus der offenen Ladentür, wie eine
neue Kunde.
Vor einer Ruine humpelt ein einbeiniger Junge, ein Mädchen
im roten Gewand überholt ihn. Eine schöne unverschleierte
Gestalt. Sie hebt den Kopf und lächelt selbstbewußt.
Buchstäblich aus den Trümmern streckt sie ihren
Kopf ins Freie. Ich muß verharren, so stark ist die
Symbolkraft des Bildes!
Das Interconti ist ein heruntergekommener Kasten. An dessen
Hauswänden Einschüsse von Kriegswirren zeugen.
Etwa 100 Berichterstatter haben sich im Saal neben dem Foyer
eingefunden und harren der Neuigkeiten.
Das Vorauskommando deutscher Soldaten war auf der Zwischenlandung
in der Türkei im Schneesturm steckengeblieben, ist vor
drei Stunden jedoch wohlbehalten in Bagram gelandet, meldet
ein britischer Isaf-Sprecher. Das interesssiert mich!
Ob Karl dabei ist? Ich werde ihn suchen. Das ist allerdings
leichter gesagt als getan. Der Stützpunkt Bagram wird
von Militär hermetisch abgeriegelt. Ohne UN-Begleitung
schlüpft keine Wüstenmaus unbemerkt an den Posten
vorbei.
Ich gehe auf die Terrasse und blicke über die dunkle,
düstere Stadt. „Zur notwendigen Sicherheit brauchen
wir dringend Straßenbeleuchtung!“ hatte der Bürgermeister
zum Abschluß gesagt. Die wenigen, flackernden Lichter
in den Gassen rühren von offenen Feuern oder Feuertonnen
her, die Obdachlose wärmen. Ob Kabul jemals zur Normalität
zurückkehrt?
Ich beschließe in den Süden zu fahren. Vielleicht
treffe ich Mohammat Harum in Kandahar? Später werde ich
versuchen mit einer UN-Maschine auszufliegen. Bei der Gelegenheit
kann ich mit dem Konvoi auf den Flugplatz gelangen um hoffentlich
meinen Sohn zu sehen...
Kandahar im Februar 2002
Kandahar! Schon der Name dieses Wüstenorts beflügelt
Abenteuerlust. Kandahar ist für Zentralasien, was Timbuktu
für Afrika bedeutet: eine geheimnisumwitterte Stadt,
die die Phantasie anregt, blutrünstiges Mittelalter beschwört
oder Schatzkarawanen erscheinen und davonziehen läßt...
Stunde um Stunde Sand, Sand und Fels, die Landschaft ist in
ein braungebranntes Totenhemd gehüllt. Vor Durst und
Traurigkeit könnte man sterben in dieser Region der Erde!
Am Wegrand immer wieder die ausgedienten Requisiten des Krieges.
Kinder tollen auf einem Panzer oder spielen mit Kartuschen.
Frauen kauern vor zerfallenen Lehmbauten, bewegungslos wie
Pflanzen. Männer stieren die Straße entlang, dumpf,
anklagend, die Kalaschnikow krampfhaft umfaßt. Als habe
die verdammte Waffe nicht schon genug Unheil angerichtet!
Es ist, als brüllen die Menschen lautlos in die Wüste:
Durst, Hunger - oh Elend!
Der Fahrer ist ein schweigsamer Mann in Weste und Sackhosen.
Irgendwie biblisch ernst und unendlich leidend kommt er mir
vor. Ein Mann, der all den Schmerz Afghanistans auf seinen
Schultern trägt. Er steuert zwar seinen Lastwagen, doch
sehr viel besser kann ich ihn mir auf einem schaukelnden Kamelrücken
vorstellen!
Als die Minaretts von Kandahar in Sicht kommen, höre
ich erstmals seine Stimme: „Die Stadt, das ist die Stadt!“
Im Zentrum läßt er mich aussteigen. Zur großen
Überraschung will er für den Fahrdienst kein Geld
annehmen.
Der Ort wirkt wie eine ausgedehnte, schmutzige Oase, von Trampelpfaden
und Kamelspuren durchzogen, auf denen sich jetzt Fahrzeuge
aller Art in Staub hüllen. Die teils verfallenen, teils
zerschossenen Lehmbauten sehen aus, als stammen sie aus der
Zeit von Darius, dem Perserkönig. Masrullah, der den
Beruf des Falkners mit dem des Kaufmanns verbindet, ist eine
ungemein distinguierte Erscheinung. Er geht nicht, er schreitet,
seine Gebärden sind würdevoll, was Turban und wallender
Kaftan unterstreichen. Sein Blick ist stolz, fast etwas arrogant.
Vor einigen Tagen hat er ein Souvenier- und Antiquitäten-Geschäft
an der Hauptstraße eröffnet. Ein wahrer Unternehmer,
dieser Masrullah! Augenzwinkernd verrät er: „Ich
verkaufe auch Krücken und Schuhe. Doch am besten geht
dies T-shirt hier.“
Aus einem Stoß Hemden zieht er eines mit dem Konterfei
Osama bin Ladens heraus. Wer es trägt, dem lächelt
der Terrorist süffisant von der Brust.„Werden die
hier produziert?“ frage ich.
„Textilgroßhändler schaffen sie aus Peschawar
heran.“„Und - hat er noch Anhänger?“
„Gottes Wege sind verschlungen und unerschöpflich.
Kommen Sie in mein Haus. Mein Sohn wird uns tschai bringen.
“Wir steigen eine schmale Treppe empor, in ein Wohnzimmer
über dem Geschäft. Der Boden ist mit Teppichen ausgelegt.
In einer Ecke steht ein Samowar. Auf einem Sockel am Fenster
sitzt ein junger Falke, der aufmerksam mit schräggelegtem
Kopf äugt. Im Schneidersitz lassen wir uns nieder. Masrullah
zupft sein Gewand zurecht und schaut mich nachdenklich aus
rätselhaft schwarzen Augen an. Im Orient wird der Mann
mit zunehmendem Alter interessanter. Liegt es an den Falten,
die sein Gesicht wie ein Geflecht unergründlicher Furchen
durchziehen?
„Wissen Sie, wovor der Afghane Angst hat?“„
Sagen Sie es mir, Masrullah!“
„Eines Tages erkennen zu müssen, einen furchtsamen
Sohn gezeugt zu haben.“
Tee wird auf einem runden Tablett gereicht.„Mein Erstgeborener
war kein Feigling. Er wurde bei der Einnahme von Kandahar
getötet.“
„Auf welcher Seite?“ frage ich vorsichtig.
„Auf der Seite der neuen Macht“, sagt er vieldeutig.
Dabei greift er unter den einzigen Schrank des Raums und zerrt
ein zersplittertes Eisenteil hervor, groß wie ein Unterarm.
Ein Schrapnell.
„Es hat die Brust meines Sohnes zerfetzt - Allah sei
ihm gnädig.
“Der Bruder schaut betreten in seine Teeschale.Masrullah
reicht mir das schwere Stück Eisen. An einem Grat klebt
etwas Rotes.
„Das ist sein Blut!“ erklärt der Vater und
ergänzt nach einer Weile: „Die Amerikaner sind
nicht gern gesehen. Ihre Welt ist uns fremd, nichts ist ihnen
heilig.
Ich wiege das Eisenteil in den Händen. „Stammt
es von einer amerikanischen Granate?“
„Das hat mir der Hauptmann berichtet.“
Ich kann mitfühlen. Ehrlich berührt sage ich: „Schlimm
- ich kann Ihre Wut verstehen. - Die Amerikaner, haben sie
nicht auch das Land von einem verblendeten Terrorregime befreit?“
Seine Augen blitzen. Einen Moment glaube ich, seine Gastfreundschaft
mißbrauch zu haben. Doch er besinnt sich und sagt mit
einem gütigen Lächeln: „Ich bin Händler
und Falkner. Die Arabi sind meine wichtigsten Kunden. Früher
belieferte ich auch bin Laden und seine Familie mit Falken.
- Doch Sie haben recht, Taliban und Al-Qaida haben unsere
Traditionen mißbraucht, viel Unheil über Afghanistan
gebracht.
Wir Paschtunen lieben den König, vielleicht kann er das
Land einen. Aber er ist ein alter Mann, und Kabul weit, weit
weg. Schon in alter Zeit haben die Sharifs der Wüste
getan was sie für richtig hielten. - Der Arm der Regierung
ist kurz und kraftlos, wie der eines Kindes. Hamid Karsai
hat keine Hausmacht! Wer weiß ob der Sommer ihn noch
als Präsidenten sieht. Diese Stadt steht unter dem Kommando
von Gul Agha“, sagt Masrullah und seufzt.Ich kann vom
Wohnzimmer aus auf die Straße schauen. In Kandahar sehen
jene, die für Ordnung sorgen sollen wie Verbrecher aus:
Sonnenbrillen, verfilzte Bärte, zerfetzte Gewänder,
geschulterte Kalaschnikows und Granatwerfer. Der alte und
neue Gouverneur Agha ist ein Chamäleon, seine Krieger
gewendete Taliban.
Auch mir bleibt nur ein tiefer Seufzer.„Ich brauche
eine Unterkunft“, sage ich unvermittelt. Masrullah nickt.
„Ich kann Ihnen eine einfache Hütte außerhalb
des Zentrums, bei den alten Brennöfen, zur Verfügung
stellen. Mein Sohn zeigt Ihnen den Weg und sorgt für
einen Wächter.“
Wieder auf der Straße, weist der Falkner zum Himmel.
Einer jener fernen Kondenzstreifen durchfurcht das wolkenlose
Gewölbe und verrät eine Tat, die in 11 000 Meter
über der Stadt ausgelöst wird.
„Amerikaner bombardieren eine Al-Qaida-Stellung. Sie
werden den Einschlag gleich hören.“Er legt den
Kopf zur Seite. „Da jetzt!“
Dumpf rollt eine Detonation heran, dann steht ein Staubpilz
im Süden über der Stadt.
In der Lehmhütte mit Schilfdach komme ich mir vor wie
ein domestizierter Beduine. Auf der geflochtenen Pritsche
liegt eine kunstvoll gewebte Decke, davor steht eine Bodenvase
aus Terrakotta und ein chelem, eine Wasserpfeife, ja sogar
paizar, traditionelle Säbelschuhe befinden sich vor dem
Bettgestell.
Seyyed, mein Wächter, ein malerischer Mudschahid mit
pump gun, richtet sich im Vorraum ein.Beim tschai sagt Seyyed,
während er die Schale zum Mund führt: „Meine
zwei Brüder wurden von den Russen erschossen. - Sehen
sie die Kerben im Holz?“
Ich habe bemerkt, daß er mit einen Stück Holz spielt.
„Es sind 18 Einschnitte und jeder davon steht für
einen toten Russen. Der Krieg war ein dschihad, ein heiliger
Krieg!“
„Die Russen haben Afghanistan vor 12 Jahren verlassen.
- Gibt es einen heiligen Krieg?“ flüstere ich mehr
zu mir selbst.
„Natürlich!“ entrüstet sich Seyyed.“
Der dschihad gegen die Kommunisten war heilig, aber es war
auch ein Krieg der Ehre gegen diese Mörder gewesen. Dieser
Holzstab erinnert mich immer daran und an diesen Bauchschuß.
“Er zeigt mir eine häßliche Narbe...
Eine weitere Bombe schlug in ziemlicher Nähe ein. Der
Wächter grinst beruhigend. Hinter den Ziegelbrennöfen
wirbelt die Staubfahne empor. Ich höre Geheul. Verwundete
Zivilisten?
„Hierbleiben!“ herrscht mich Seyyed an,“
ferangi begeben sich da nur in Gefahr.“
Gleich hinter den großen Brennöfen beginnt die
winddurchwehte Einöde. Ich spüre die andere, unbekannte
Welt, das Universum der Dürre und des Sandes.
Die afghanische Wüste ist zwar kleiner als die Arabiens,
Libyens oder Mauretaniens, dafür aber grausamer. Es gibt
keine Oasen. Wer sich in ihr verirrt ist des Todes. Nicht
zu Unrecht hat Afghanistans Wüste den Namen: Dascht-i-Margo,
die Todeswüste...
Schreie und Rufe gehen durch Mark und Bein. Menschen eilen
in Richtung Staubwolke.
Jetzt wird der Wächter unruhig. „Ich schaue nach.
Aber Sie bleiben hier.“
„Warum?“
„Weil Sie gesteinigt werden!“ sagt Seyyed.
Immer noch strömen Menschen aus den Gassen in Richtung
eines Ereignisses, das ich mir nicht vorzustellen vermag.
Sie rennen, lamentieren, gestikulieren. Die Menschen sind
wie von Sinnen. Frauenstimmen stoßen spitze Schreie
aus.
Seyyed erscheint nach einer Ewigkeit, staubbedeckt, schwitzend,
außer Atem. „Die Bombe, sie traf in ein Wohnhaus.
Tote, Verwundete...“
Nein - um Gotteswillen! Eine chirurgische Operation schlug
fehl, wie so manches Mal in letzter Zeit. Unvermögen
oder eine tödliche Fehlinformation, womöglich lanciert,
um gegen die Fremden, vor allem gegen die Amerikaner Stimmung
zu machen?
In den nächsten Tagen ist Seyyed, der Hauswächter,
auch mein bodyguard. Mit ihm als Schatten verschaffe ich mir
Einblicke in eine finstere Stadt. Nachmittags finde ich mich
meist bei Masrullah, dem Falkner, zum Tee ein. Wir haben uns
etwas angefreundet. Über seine Kontakte versuche ich
Mohammat Harum zu finden, der längst in der Stadt sein
müßte.
Masrullah erwartet mich. Wie eine Statue ruht er im Wohnzimmer
seines Hauses, von zwei Falken würdevoll eingerahmt.
„Tshe hal dari, wie geht es Ihnen? Treten sie ein. Ich
habe eine Neuigkeit für Sie. Mohammat Harum, der ‘verlorene
Sohn’ ist in der Stadt.“
„Das ist eine gute Nachricht. Wo kann ich ihn treffen?“
Der Falkner fordert mich mit einer Geste auf Platz zu nehmen.
Kaum habe ich es mir auf einem der Kissen bequem gemacht,
erscheint der Diener mit einem Tablett, auf dem sich Fladenbrot,
Reis, eine schwarze Soße und Hammelfleisch befinden.
„Ich bitte Sie, bei kahbab mein Gast zu sein“,
sagt Masrullah.
Mit einer Hand bricht er ein Stück Fladenbrot taucht
es in die Soße, dann quetscht er etwas Reis zwischen
Brot und Finger und schiebt sich den Bissen in den Mund. Seine
Eßkultur hat etwas ungemein aristokratisches.
„Mohammat wohnt bei einem Onkel“, sagt der Falkner,
„ich lasse Sie morgen hinbringen."
Ich esse von dem Hammelfleisch. Schließlich sage ich:
„Ihre Gastfreundschaft beschämt mich. Wie kann
ich mich revanchieren?“
„Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, daß mein Bruder
in Deutschland lebt - in Frankfurt. Er hat nur Gutes über
die Deutschen berichtet. Ich freue mich, daß sie mein
Gast sind."
Mohammat Harum ist am anderen Ende der Stadt untergekommen.
Mit einem Beamten für Rekonstruktionen soll er bereits
Kontakt aufgenommen haben. Händeringend wird ein Bauingenieur
gesucht, der den Aufbau einer provisorischen Brücke über
den Arghandab organisiert.
Schon in den 30er Jahren haben deutsche Ingenieure einige
Brücken zwischen Kandahar und Kabul gebaut. Mohammat
ist glücklich, als Wahldeutscher an diese Tradition anknüpfen
zu können. Mit Helfern macht er sich sogleich auf, um
die Beschädigungen in Augenschein zu nehmen.
Bei Senjaray steigt er aus dem Fahrzeug, um das Wadi mit der
Brückenruine zu inspizieren. Hernach verschafft er sich
ein Bild vom Umfeld des Flußabschnitts. Sicher werden
seine Begleiter ihn gewarnt haben, achtlos durch den Sand
zu laufen.
„Unser Land braucht Männer wie Mohammat, sie haben
das Wissen und das Können Afghanistan aufzubauen“,
sagt Masrullah.
Am nächsten Tag wundere ich mich, daß Seyyed, der
Wächter, nicht vor des Hütte steht.Gegen Mittag
stürzt er herein. „Rasch, kommen Sie! Es ist etwas
passiert!“
Im Nu bin ich auf den Beinen. Folge ihm ins östliche
Stadtgebiet, bis wir eine Ansammlung flacher Lehmbauten in
ziemlich desolatem, Zustand erreichen. Ein Lazarett.
Wir drängen uns durch eine Traube stumm leidender Menschen,
deren Wunden notdürftig mit schmutzigen Tüchern
verbunden worden sind. Die Ambulanz muß gerade geöffnet
worden sein. Alte, junge, versehrte Afghanen strömen
heran. Schwerverletzte werden auf Bahren herangeschleppt,
andere humpeln von Freunden oder Verwandten gestützt.
Ein Jammertal! Im Gebäude ist die Luft stickig, die Fülle
schlimmer als in einer Moschee beim Gottesdienst.
Abgekämpfte Ärzte und erschöpfte Schwestern
gönnen sich eine kurze Verschnaufspause. Sie stieren
kopfschüttelnd vor sich hin. Wie sollen sie weitermachen,
wenn es an allen mangelt? Zu wenig Medikamente, kaum Verbandszeug,
fehlende Instrumente!
Wir stehen an der Schwelle zur Krankenstation. Ekelerregender
Gestank verfaulten Fleisches, vermischt mit dem von Urin und
Kot. Modergeruch, der die Sinne betäubt! Auf einmal beschleicht
mich ein dumpfes Gefühl von Sorge. Ich mag nicht fragen
was wir suchen, warum wir eigentlich hier sind.
Ein Arzt tritt mit uns vor eine Pritsche. Was darauf liegt,
ist in einem beklagenswerten Zustand. Aschfahl, verzerrtes
Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn. Jetzt erst erkenne
ich die Person an der Stirnnarbe. Ein Schreck fährt mir
durch die Glieder. Es ist Mohammad Harum!
Wo sich normalerweise ein Fuß befindet, sehe ich blutdurchtränkte
Stofffetzen. Die Hose ist bis zum Gesäß aufgeschlitzt,
das Bein kurz unter dem Knie abgebunden worden. Harum stöhnt
langgezogen, und windet sich im Fieber. Er ist nicht ansprechbar.„Das
Werk einer Splittermine. Er hat viel Blut verloren“,
sagt der Arzt und beugt sich über ihn“, wir werden
ihm den Fuß, vielleicht das Bein abnehmen müssen.“
Wieder stöhnt Harum als habe er vernommen was ihm bevorsteht.Hinter
der Pritsche stehen drei Männer mit versteinerten Gesichtern.
Verwandte, vermute ich. Aus ihren Augen sprüht Haß
und der Drang nach Vergeltung.Mein Gott!
„Wir bereiten die Operation vor“, erklärt
der Arzt, „er kommt gleich dran. Zwei Bauchwunden und
eine Kopfverletzung waren dringender.“
Wir harren der Dinge, ratlos, tatenlos. Ein Zustand der Hilflosigkeit.
Nach zehn Minuten wird Harum in einen provisorischen Op-Raum
getragen. Zurück bleibt Wut und Ohnmacht. Der schmutzige
Krieg ist noch lange nicht zu Ende!
Zwei Tage später verlasse ich die Stadt. Harum hat sein
Bein kurz unter dem Knie eingebüßt. Er wird überleben,
mit gebrochenem Herzen und geschundener Seele. Er wollte seiner
Heimat helfen, nun ist er selbst hilfebedürftig.
Warum, wird er fragen. Wo war Allah, wo mein Gott? Er wird
nach Deutschland zurückkehren, seine noble Absicht als
Alptraum empfinden, vielleicht bedauert, wenn nicht gar hämisch
bemitleidet werden. Was für eine Welt? Was für eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit?
Auch ich verlasse Kandahar mit dem Gefühl der Verwirrung.
Als ich kam, war alles klar geordnet: hier der Feind, dort
der Freund. Hier Niederlage, dort Sieg. Hier Vergangenheit,
dort Zukunft. Als ich gehe, befindet sich alles in Aufruhr:
Wo ist der Feind? Wo der Freund? Wo die Niederlage? Wo der
Sieg? Und wo ist die Zukunft?
Was kann ich meinem Sohn sagen, der seinen Dienst in diesem
Land versieht? Ist seine Aufgabe wichtig, wichtig genug, um
dahinter zu stehen, mit ganzem Einsatz, mit ganzer Überzeugung,
selbst auf die Gefahr hin, ein Krüppel zu werden, gar
alles zu verlieren?
Ich werde ihm sagen: trotz allem, trotz Rückschlägen
und Wirrsal, du verteidigst Werte, unsere Werte! Auch Taliban
oder radikale Islamisten geben vor etwas zu verteidigen, was
sie für Werte erachten, aber das sind nicht unsere Vorstellungen
von Werten, von Recht und Ordnung, von friedlichem Miteinander
von Freiheit.Und weil das so ist, stehst du hier in diesem
Land für eine gute Sache, die es lohnt zu verteidigen
und zu wahren, auch mit dem Äußersten, dem Leben.
Die Friedenssicherung in Afghanistan ist eine große
Aufgabe, das werde ich ihm sagen - falls er mich fragen sollte,
falls er zweifeln sollte...
Ich komme nicht dazu. Wie ich erfahre, ist Karl noch nicht
eingetroffen. Ich verlasse das Land unter dem Hindukusch Mitte
Februar. Vier Tage später trifft mein Sohn ein. Bis Ende
Juli wird er in der UN-Friedenstruppe seinen Dienst tun. Wie
gern hätte ich ihn gesprochen und ihm gesagt, was ich
von seinem Einsatz halte und zwar hier, auf afghanischem Boden.
Es ist mir nicht gegönnt. Vielleicht später - sollte
ich noch einmal hier her kommen.
Afghanistan fasziniert durch seine rauhe Struktur, mit seinen
schweigsamen, harten Männern, und den geheimnisvoll-verschleierten
Frauen, deren Burkas der Wind bläht wie ein mächtiges,
hoffnungvolles Segel, das die Menschen am Ende doch an ein
sicheres Gestade trägt - daran möchte ich glauben,
selbst, wenn es schwer fällt!
|